Deine Stimme für die Demokratie

„Die Zeit ist reif für eine aktive Bürger*beteiligung als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie. Der Prozess muss transparent sein, damit jedem Bürger* Gehör geschenkt werden kann. Jede Stimme zählt, um unsere Demokratie zu stärken“.

Helena Peltonen-Gassmann, Mehr Demonkratie e.V.

Vom Bürger*begehren zum Bürger*rat

In den Anfangsjahren der Gründung der Bundesrepublik war eine Beteiligung seitens der Bevölkerung nur über demokratische Wahlen möglich. In den 1970er Jahren erfolgte dann ein großer politischer Wandel. Es wurde nach einer Möglichkeit gesucht, wie man auf kommunaler Ebene das Informations- und Anhörungsrecht der Bürger* stärken konnte. Das Konzept einer Bürger*beteiligung wurde ins Leben gerufen. Dies geschah durch eine Einführung von Bürger*versammlungen, die sich ebenfalls an den Planungsverfahren politischer Handlungen beteiligten. Die Mitglieder dieser Versammlungen gehörten meist einem kommunalen Ausschuss an, der zwar volksnah agierte, jedoch ebenfalls ein öffentliches Organ darstellte. In den 1990er Jahren wurden schließlich bundesweite direktdemokratische Beteiligungsverfahren wie Bürger*entscheide und Bürger*begehren eingeführt. Diese zwei Formen der bürgerlichen Partizipation spielten sich bis dato in einem offiziellen und vorgeschriebenen Rahmen ab. Der Tenor der Gesellschaft wurde also gehört – jedoch nicht die Stimme der Einzelnen. So wurde der Wunsch der Bürger* nach einer aktiven Beteiligung immer lauter, bis sich schließlich in den 2000er Jahren erste informelle Bürger*beteiligungsverfahren gründeten, bei denen sich Bürger* außerhalb des gesetzlichen Rahmens zusammenschlossen und Themen auf kommunaler beziehungsweise lokaler Ebene diskutierten, die bei institutionalisierten Prozessen außer Acht gelassen wurden. Mit dem Wandel des Demokratieverständnisses im letzten Jahrzehnt wurde diese Form der Beteiligung immer relevanter. Heutzutage findet man eine Vielzahl dieser informellen Partizipationsverfahren, die im Rahmen eines Bürger*rats abgehalten werden. Ziel hierbei ist es, eine Alternative zu Wahlen und Parteien für die Legitimation von politischen Entscheidungen zu schaffen. Informelle Bürger*beteiligungen durch Bürger*räte können somit auch als Rückkoppelung zwischen Regierung und Regierten gesehen werden. Komplexe, politische Entscheidungsprozesse werden somit nicht mehr über den Kopf der Bürger* hinweg entschieden und schaffen Vertrauen in die Demokratie als politisches System.

Warum brauchen wir einen Bürger*rat?

Aufgrund der heranschreitenden Globalisierung, der wachsenden Mobilität und des fortlaufenden technischen Fortschritts, wächst die Diskrepanz von politischer und gesellschaftlicher Realität immer mehr an. Die parlamentarische Demokratie ist zwar vollständig intakt, die Legitimation politischen Handelns ist jedoch nicht mehr ausschließlich durch die Partizipation des Volks gedeckt. Merkmal dafür ist beispielsweise die abnehmende Wahlbeteiligung der letzten Jahre. Frustration über bestehende Parteien und Regierungsformen lösen ein Desinteresse und Frustration bei der Wähler*schaft aus. Es muss ein individueller Rahmen geschaffen werden, wo jede*r zu Wort kommen kann und Entscheidungen mit Einverständnis aller Bürger* getroffen werden. Eine Wahl reicht hierfür nicht aus, da Handlungsempfehlungen schon vorgegeben werden. Bürger* können zwar die freie Entscheidung treffen, auf einen Gesetzesentwurf mit „Ja oder „Nein“ zu antworten beziehungsweise eine*n Politiker* im Amt zu bestätigen oder nicht, jedoch wird es ihnen verweigert, gestaltend zu agieren.

Demokratie lebt von der Beteiligung

Das besondere an einem Bürger*rat ist, dass die Mehrheit des Gremiums keine Politiker* sind, sondern Bürger*, die repräsentativ aus der Bevölkerung gewählt werden. So kann sichergestellt werden, dass die Beteiligung nicht aus eigennütziger Intention erfolgt. Zu der Bürger*versammlung werden zudem auch Experten* eingeladen, die ihr Fachwissen in verschiedenen Diskussionsformaten und Moderationsmethoden einbringen. Im tatsächlichen Entscheidungsprozess werden Stimmen wie bei einer Wahl gesammelt, wobei die Stimmgebenden auch Entscheidungsgewalt in Bezug auf die Themenstellung der Stimmen haben. So kann in einem demokratiepolitischen Rahmen entschieden werden, der ohne Diskrepanz zwischen öffentlichen Interessen und gesellschaftlichen Wünschen entsteht. Am Ende der Versammlung findet sich der Bürger*rat zusammen und erarbeitet eine Handlungsempfehlung, die dem Parlament vorgelegt wird und dort auch zwingend behandelt werden muss.

Bürger*räte als Institution

Irland

In Irland gehören Bürger*räte zu einer festen Verankerung der Legitimation politischer Entscheidungen. Mit einem Gremium von 66 gelosten Personen, 33 Politiker*n und einer*m Vorsitzenden tagt der irische Bürger*rat über mehrere Monate zu einem spezifischen Thema, um an einer rechtwirksamen Entscheidungsgrundlage zu arbeiten. Die Teilnahme an diesen Ausschüssen ist für geloste Bürger* verpflichtend, weswegen es sich hier um eine formelle Bürger*beteiligung handelt. Die Auswahl erfolgt dennoch willkürlich, was den Bürger*rat in Irland sehr volksnah gestaltet. Oftmals werden nach dem Bürger*rat auch Referenden zur Befragung der gesamten irischen Bevölkerung abgehalten, um die Gesamtmeinung abzurunden. Diese Form des gesellschaftlichen, politischen Handelns hat eine große Reichweite.

So wurden 2013 Bürgerrats-Beratungen zur Gleichstellung von Homosexuellen im irischen Eherecht abgehalten. Das Gremium wurde mit der Frage befasst, ob sich die irische Verfassung ändern sollte, um gleichgeschlechtlichen Paaren eine zivile Ehe zu ermöglichen. Die Bürger*versammlung stimmte dafür, sodass das irische Parlament ein zusätzliches Referendum ansetzte, um in einem direktdemokratischen Volksbegehren eine Entscheidung zu treffen. Tatsächlich stimmten 62,1% der Bevölkerung für eine gleichgeschlechtliche Ehe, was Irland zum ersten Land weltweit der völligen Gleichstellung homosexueller Paare kürte.

Im Jahr 2017 wurde ebenfalls ein Bürger*rat zum Thema Abtreibung einberufen, der diese Debatte erheblich vorantrieb. Im Mai 2018 wurde schließlich mittels eines direktdemokratischen Referendums entschieden, dass das Abtreibungsverbot in Irland abgeschafft wird.

Erfahrt mehr dazu in unserem Beitrag: Irland - Wenn der Wille des Volkes gewinnt.

Österreich

Die Effizienz der irischen Bürger*räte wirft die Frage auf, ob dieses Modell nicht auch zukünftig in allen europäischen Ländern ein Teil der Legislative sein soll. Österreich griff diesen Ansatz auf und organisiert seit jeher kleinere politische Bürger*räte auf Gemeinde- und Stadtebene, bisher aber noch ohne parlamentarische Legitimität.

2006 wurde das „Vorarlberger Modell“ eingeführt, wo das Recht auf Bürger*räte in die Landesversammlung aufgenommen wurde. Hier besteht somit die Möglichkeit von formellen Bürger*versammlungen, die politische Entscheidungsprozesse beeinflussen.

Bürger*räte in Deutschland

Auch in Deutschland findet man mittlerweile einige informelle Bürger*bewegungen, die aktiv an neuen Handlungsempfehlungen für den Bundestag arbeiten, wie unsere Initiative Es geht LOS!

Beim formellen Handlungsrahmen gibt es aber nach wie vor Startschwierigkeiten.

In diskursiven Bereichen wie beispielsweise der Energie- und Wasserversorgung, der Infrastruktur, der Entsorgung oder Bauplanungen fanden in der Vergangenheit formelle Bürger*beteiligungen inklusive Bürger*räte statt, die nach dem irischen Model fungieren sollten. Dieser Prozess wurde zwar allgemein als zielführend und bereichernd angesehen, jedoch fehlte es an ausreichender Partizipation und Struktur. Beispiel dafür ist ein vor einiger Zeit initiierter Bürger*rat, der über den Versuch, die Stadtwerke Leipzig zu teilprivatisieren, abstimmen sollte. Es gelang weder dem Stadtrat, der aus 5 Parteien mit sehr unterschiedlichen Interessen bestand, noch dem privaten Investor, genügend Transparenz während des Prozesses walten zu lassen, um die Bürger* hinreichend zu informieren, zu integrieren und zu animieren, den Prozess zielführend zu steuern. Schließlich wurde eine informelle Bürger*bewegung ins Leben gerufen, die sich gegen das Projekt aussprach und letztendlich auch ein Plebiszit durchsetze.

"Ich will das Ohr möglichst nah an den Bürger*n haben, dabei soll mir der Bürger*rat helfen“, so Oberbürgermeister Daniel Schranz im Vorfeld zur ersten Bewerbungsphase für den von ihm ins Leben gerufenen Bürger*rat im Sommer 2016. "Von Anfang an stand fest, dass dieses Beteiligungsmodell keineswegs die weiteren Beteiligungsmöglichkeiten in unserer Stadt ersetzen, sondern vielmehr ergänzen soll."

Im Jahr 2016 wurde von Oberbürgermeister Daniel Schranz von Oberhausen ein offizieller Bürger*rat initiiert, was einen großen Schritt in die demokratiepolitische Richtung darstellte. Aus über 650 Bewerber*n wurden 15 Mitglieder des Bürger*rates für einen Zeitraum von zwei Jahren ausgelost, die aktuelle Themen in regelmäßig stattfindende Gremiensitzungen besprechen. Die daraus entstehenden Handlungsempfehlungen beschreibt der Oberbürgermeister als eine Art „Frühwarnsystem“, das unerwünschte Entwicklungen seitens des Volkes verhindern sollen.

Demokratie betrifft uns alle

Es ist an der Zeit, dass auch in Deutschland aktive Bürger*beteiligung als Teil des politischen Entscheidungsprozesses angesehen wird. Daher wurden mittlerweile Initiativen ins Leben gerufen, die Bürger* dabei unterstützen sollen, ihre Stimme für die Demokratie einzusetzen. Auch der gemeinnützige Verein „Demokratie Innovation“ etabliert mit unserer Initiative Es geht LOS! eine Möglichkeit der Beteiligung, des Austausches und des aktiven Wirkens. Wir kreieren ein gelostes Diskussionsforum, damit die Stimme der Bürger* wieder eine Position in der Bundespolitik einnimmt. Unser Ziel ist die Organisation und Durchführung des ersten ausgelosten Bürger*rats mit 100 Beteiligten auf Bundesebene. Damit wird die Funktionsfähigkeit von Bürger*räten in Zukunft untermauert und deren Institutionalisierung unterstützt. Das Ergebnis wird dem Deutschen Bundestag als Forderung unterbreitet.

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