Von der Haustür in die Politik

In unserer Demokratie fehlt es an Vielfalt und Input aus der breiten Gesellschaft. Motivation zur politischen Teilhabe schafft Es geht LOS direkt bei den Menschen zuhause.

Juliane und Leonie von Es geht LOS wollen Menschen dazu motivieren, an gelosten Bürger*innenräten teilzunehmen. Aber das kann schnell zu einem enormen Aufwand werden, erzählt Juliane. Sie ist eigentlich studierte Philosophin und Politikwissenschaftlerin und hat sich schon immer für Demokratie interessiert. Doch es ist gar nicht so einfach, auch die Bevölkerung davon zu überzeugen, die eigene Stimme in der Demokratie zu nutzen und zu zeigen, dass Mitbestimmung einfach und möglich ist.

Ein immer größerer Teil der Gesellschaft beteiligt sich mittlerweile nicht mehr am politischen Diskurs, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie sinkt. Es geht LOS möchte dem abhelfen und die Bürger*innen stärker in die Debatten einbeziehen. Vor allem diejenigen, die sich nicht ohne Zutun beteiligen.

Diversität schaffen in den Bürger*innenräten

Diese Vielfalt zu schaffen ist aufwendig. Es Geht LOS nutzt dafür das Aufsuchende Losverfahren, das etwas anders funktioniert als das oft angewandte zweistufige Losverfahren.

Bei Letzterem wird eine große Anzahl an Personen ausgelost und angeschrieben. Aus denen, die sich zurückmelden, wird eine möglichst repräsentative Gruppe für den Bürger*innenrat zusammengestellt. Im Schnitt melden sich aber nur etwa fünf Prozent der Angeschriebenen zurück. Und die bilden nicht wirklich die breite Gesellschaft ab, denn die meisten sind Menschen, die sich sowieso schon für Politik interessieren und auch engagieren.

„Deswegen schreiben wir diejenigen, die sich nicht zurückmelden, auch ein zweites Mal an, und wenn sie darauf nicht reagieren, laden wir sie persönlich an ihrer Haustür ein“, erklärt Juliane. Die Gruppe soll so divers wie möglich werden - und das schließt nicht nur unterschiedliche Geschlechter und Altersgruppen, sondern zum Beispiel auch Bildungshintergründe und Wohngegenden ein.

Dieses ganze, sehr zeitintensive Verfahren hat Juliane zu Beginn noch per Hand gemacht: „Ich habe alles eingetragen, wer sich wann gemeldet hat, wer wann aufgesucht wird, wie sich zurückgemeldet wurde, mit wem schon gesprochen wurde. Das alles im Blick zu haben war wahnsinnig aufwendig.“

Eine App optimiert den Losprozess

Deswegen hat Es geht Los eine App entwickelt, die später auch als Open Source Anwendung bei allen zukünftigen gelosten Bürger*innenräten zur Verfügung stehen soll und die in diesem Projekt zum ersten Mal getestet wurde. Die “Es geht LOS-App” übernimmt das analoge Auswahlverfahren und macht das Auslosen effizienter. Auch trifft die App keine unterbewussten Annahmen darüber, wie beispielsweise ein Name klingt und wer dahinter stecken könnte. Wenn man dann die durch die App ausgewählten Personen an der Haustür ansprechen will, kann die App dafür gleich die perfekte Route anzeigen. “Die App schafft nicht automatisch mehr Diversität, aber sie vereinfacht die Logistik”, sagt Juliane.

Den Gesamtüberblick über das Beteiligungsverfahren hat Projektkoordinatorin Leonie, die vor allem die administrative Seite betreut. Leonie hat einen Master in Friedens- und Konfliktforschung, beschäftigt sich viel mit Dialogarbeit und der Frage, wie Menschen im Gespräch Polarisierung überwinden und wieder zusammenfinden können. Mit diesem Background war sie, genau wie Juliane, auch in Brandis und Tengen mit vor Ort, als die gelosten Bürger*innenräte in Präsenz stattfanden. Die Diskussionen zwischen Leuten, die im Alltag so nicht aufeinander treffen würden, moderierten Leonie, Juliane und zwei Kollegen. „Das schafft eine andere Qualität als in üblichen politischen Diskussionen“, sagt Leonie. „Es werden konstruktivere und inklusivere Entscheidungen getroffen“, ergänzt Juliane. Perspektivwechsel kommen zustande und die Teilnehmenden können Vorurteile abbauen.

Gemeinsam Politik machen

Wenn so viele unbekannte Menschen auf so viele verschiedene Ansichten treffen, gibt es zu Beginn immer „ein Stück weit Unsicherheit“, sagt Leonie. Aber das sei normal und werde methodisch aufgefangen. Schnell entdeckt man erste Gemeinsamkeiten, die Stimmung löst sich, man begegnet sich mit Wertschätzung und es entsteht ein vertrauter Rahmen. Juliane erzählt, wie spannend es sei zu merken, wie präsent die Menschen bei den Räten sind und wie ernst sie die Themen nehmen: „Man hat etwas in den Menschen erweckt, sie wollen gern weitermachen und das weiterentwickeln“.

Und genau darum geht es Es geht LOS, um Langfristigkeit. Die Energie, die beim Bürger*innenrat aufkommt, soll nicht verpuffen, sondern für weitere Projekte genutzt werden. Auch Julianes Annahme, dass Bürger*innenräte „gut sind, dass das funktioniert“, bestätigte sich. Jetzt muss weiter daran gearbeitet werden, dass diese Form der Beteiligung „gut mit dem politischen System verzahnt wird“, sagt Leonie.

Aktuell drehen sich viele Diskussionen darum, wie die Anbindung an das politische System gestärkt werden könne, damit die Empfehlungen aus den Beteiligungsverfahren in der Politik auch Beachtung finden. Bürger*innenräte motivieren Menschen, sich aktiv zu beteiligen und bauen Hürden aufgrund von fehlendem Wissen für politisches Engagement ab. Sie befähigen Kommunen, inklusivere Entscheidungen zu treffen und in den Diskurs mit Bürger*innen zu treten. Um andere Kommunalverwaltungen in ihren eigenen Beteiligungsverfahren zu unterstützen, hat Es geht LOS neben der App außerdem einen Materialbaukasten entwickelt. Darin finden sich Anleitungen für das Losverfahren, Vorlagen für Anschreiben, Infoblatt, Rückmeldebogen und Einwurfkarte für das Aufsuchen. Der Baukasten ist online frei für alle Städte und Kommunen zugänglich.

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