Du und ich können die Politik von morgen bestimmen
Losbasierte Bürger*innenräte sind eine Möglichkeit, um die Demokratie zu stärken und Vertrauen wieder aufzubauen. Diversität und miteinander ins Gespräch kommen sind eine Voraussetzung.
Es fehlt an Vertrauen in die Politik: »Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen », so hört man es überall. Ungleichheiten gefährden die Demokratie. Und die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft nehmen zu, womit das Vertrauen in die Demokratie und in ihre Problemlösungsfähigkeit vermindert wird. „Die Bindung zwischen Wählern und Gewählten ist schwächer geworden“, sagte Wolfgang Schäuble (CDU) gegenüber der Süddeutschen Zeitung (SZ). Gleichzeitig aber wünschen sich viele Menschen mehr Möglichkeiten, um sich politisch zu beteiligen, auch abseits von Wahlen.
Es existiert tatsächlich eine vielversprechende Option, um emotionale Debatten in der Spitzenpolitik zu versachlichen, gesellschaftliche Konflikte zu entschärfen und Polarisierungen zu mildern: Geloste Bürger*innenräte als Methode, um die Vielfalt der Gesellschaft im politischen Diskurs abzubilden. Dabei sollen die Bürger*innenräte die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen und beleben. Ein mehrstufiges Losverfahren und die Mühen, die danach erfolgen, diese Menschen zu aktivieren und mobilisieren, stellt sicher, dass eine diverse Gruppe von Menschen am Bürger:innen-Rat teilnehmen kann, sagt der Sozialpsychologe Julian Bleh. Er forscht zu sozial-ökologischer Transformation: Was motiviert Menschen, um zur Veränderung unserer Gesellschaft beizutragen und was hält sie davon ab? Die gelosten Bürger*innenräte von Tengen und Brandis begleitet er wissenschaftlich und wertet aus, was sich dadurch verändert, sowohl individuell in den Köpfen der Menschen als auch auf der politischen und administrativen Ebene.
Durch Dialog zu einer Redemokratisierung der politischen Beratung
Laut Bleh seien die Teilnehmenden bei offenen Formaten überwiegend männlich, bereits politisch interessiert, oftmals engagiert und hätten eine starke Meinung zum jeweiligen Thema. Durch das Losen, das Motivieren und Aktivieren können auch Menschen teilhaben, die sonst eher weniger am politischen Geschehen mitwirken. Menschen, die oftmals eine geringe Motivation zur politischen Beteiligung haben: „Durch mein Handeln verändert sich eh nichts“. Bürger*innenräte böten daher die Chance, die politische Beratung zu redemokratisieren, schreibt Tamara Ehs von der Universität Wien, wo sie zu Demokratie und Verfassung forscht, im Katapult Magazin. Aus den Räten können konstruktive und produktive Impulse entstehen.
Um diese Lösungen zu erarbeiten, braucht es den Dialog. Je besser die Bürger:innen informiert sind, je mehr Perspektiven in die Debatte einfließen und je professioneller diese moderiert werden, desto differenzierter sind die Ergebnisse der Beratungen. Den Prozess der politischen Willensbildung durch Debatten und den Austausch von Argumenten nennt man Deliberation. Im besten Fall motivieren die inspirierenden Gespräche die Menschen, sich zukünftig weiter politisch zu beteiligen, sagt Bleh.
Die sozialpsychologische Forschung zu kollektivem Handeln zeige, dass sich unser politisches Selbstverständnis in der Interaktion miteinander entwickle. Dafür brauche es Orte, an denen die Menschen in Kontakt kommen und über Politik sprechen können, um gemeinsame Ansichten, ein geteiltes politisches Selbstverständnis zu entwickeln. Zu realisieren, dass wir nicht alleine sind mit unseren Ansichten und dass wir gemeinsam etwas verändern können. Daraus entsteht die Motivation, sich am politischen Geschehen zu beteiligen. Egal ob Wahl, Engagement oder Protest. Es brauche mehr solcher Orte, die einen Rahmen für eine konstruktive Politisierung bieten, so Bleh.
Geloste Bürger*innenräte stehen im Koalitionsvertrag
Auch Schäuble vertritt die Meinung, dass die gelosten Räte für mehr Mitsprache und Dialog in der repräsentativen Demokratie sorgen und eine sinnvolle Ergänzung zu den bewährten parlamentarischen Entscheidungsverfahren bieten. In der Bundespressekonferenz zum Auftakt des zweiten bundesweiten Bürger*innenrates „Deutschlands Rolle in der Welt“ im Januar vergangenen Jahres sprach er davon, dass sie ein Verständnis für die Komplexität politischer Fragen und demokratischer Entscheidungsprozesse vertiefen würden. Im November 2020 haben Bündnis 90/Die Grünen geloste Bürger*innenräte in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen. „Ein wichtiger Ansatz, um unsere parlamentarische Demokratie zukunftsfähig zu machen“, so Schäuble (CSU) gegenüber der SZ. Mittlerweile wurden sie auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen: „Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren. Dabei werden wir auf gleichberechtigte Teilhabe achten.” Es werde außerdem sichergestellt, dass sich der Bundestag mit den Ergebnissen befasst.
Eine bessere Politik mit der breiten Gesellschaft
Die Demokratie durch Bürger*innenbeteiligung zu stärken ist aktuell ein europaweiter Trend. Ein zeitgenössisches Beispiel ist die Irische Citizens‘ Assembly. Durch die Finanzkrise 2008 hatten die politischen Institutionen in Irland stark an Vertrauen verloren. Doch dann wurde die „Constitutional Convention“ eingerichtet, die von 2012 bis 2014 Vorschläge für Änderungen an der Verfassung erarbeitete. 66 zufällig ausgeloste Bürger*innen nahmen daran teil, sodass eine ausgewogene Mischung aus Altersgruppen, Bildungshintergründen und sozioökonomischer Stellung zustande kam. Durch ihr Mitwirken beschloss die Convention einige weitgreifende Veränderungen, wie zum Beispiel die Lockerung des strikten Abtreibungsverbots.
In Deutschland hat der Wuppertaler Soziologe Dr. Peter C. Dienel bereits in den 1970er Jahren mit den Planungszellen einen Prozess für die Bürger*innenbeteiligung bei öffentlichen Bauvorhaben entwickelt. Zur gleichen Zeit entwickelte in den USA Ned Crosby die Citizens‘ Jury. Beide wollten einen geschützten Raum bereitstellen, in dem Bürger:innen in moderierten Gesprächen von ihrem Bauchgefühl zu einer informierten Meinung kommen können. Mittlerweile setzt die Politik in Frankreich und Großbritannien regelmäßig geloste Gremien ein, zum Beispiel wenn es um das Thema Klimaschutz geht. In Ostbelgien wurde 2019 der Bürger*innenrat als eine Art zweite Kammer installiert. Parlament und Regierung müssen nun auf deren Vorschläge reagieren und begründen, wenn sie die Entwürfe nicht umsetzen.
Aus einer Studie zur innovativen Bürger*innenbeteiligung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht hervor, dass die Räte bei effektiver Organisation zu besseren politischen Ergebnissen führen und das Vertrauen in die Politik stärken. Um das zu gewährleisten, brauche es eine Moderation für einen konstruktiven Dialog sowie ausgewogenen wissenschaftlichen Input, je nach der Komplexität des zu diskutierenden Themas, erklärt Bleh.
Politik muss einfach zugänglich sein
Genau hier liegen aber auch die Grenzen von losbasierten Bürger*innenräten. Sich eingehend zu informieren kostet viel Zeit. Außerdem sei die Teilnahme für die Menschen ein Extraaufwand, der für viele im Alltag schlichtweg nicht machbar ist. Aber wenn die Formate kurzweilig sind, wie zum Beispiel bei Es geht LOS, dann ist die Teilhabe einfacher und das Angebot niederschwelliger. Um die Menschen dann dafür zu motivieren, werden sie wortwörtlich an der Haustür abgeholt. Das mache es den Menschen leichter, über die Teilnahme nachzudenken, Zweifel zu besprechen und mögliche Hürden aus dem Weg zu räumen. Das Ziel ist, dass sie verstehen, wie politisch relevant die Beteiligung und die daraus entstehenden Ergebnisse tatsächlich seien. Man müsse den Bürger*innen Wertschätzung entgegenbringen, wenn sie sich einbringen. Es sei außerdem wichtig, Barrieren abzubauen, sagt Bleh, indem beispielsweise Dolmetscher:innen bereitgestellt werden, die Teilnehmenden die Möglichkeit erhalten, sich von der Arbeit freistellen zu lassen oder auch durch finanzielle Aufwandsentschädigungen.
Wenn sie diese grundlegenden Anforderungen erfüllen, stellen geloste Bürger*innenräte eine Möglichkeit dar, um Filterblasen und Echokammern zu verlassen. Im Bürger*innenrat verbinden sich verschiedene Perspektiven aus der Gesellschaft und die Bürger*innen können ein gemeinsames Realitätsverständnis für ein politisches Thema erarbeiten. So wird die Vielfalt von Meinungen sichtbar und Themen, die in zerstrittenen Parlamenten nur schwer konstruktiv zu lösen sind, gehen voran.
Hannah Prasuhn