Session 1: Wozu geloste Beteiligung?
Was ist passiert?
Am 23. Januar 2023 fand die erste Session im Rahmen von “Denkraum Demokratie – Wie weiter mit geloster Beteiligung?” statt. Eröffnet wurde die Reihe, die sich den kritischen Fragen und ungelösten Problemen in Bezug auf losbasierte Beteiligung widmet, mit einem positiven Blick: Welche Chancen birgt losbasierte Beteiligung für verschiedene Facetten unseres gesellschaftlichen Miteinanders? Ziel dieses Auftakts war eine erste Bestandsaufnahme von Perspektiven auf die Potenziale geloster Beteiligung unter den Anwesenden.
Neben einer Mehrheit von erfahrenen Beteiligungspraktiker:innen fanden sich ebenso ehemals ausgeloste Teilnehmende und an geloster Beteiligung Interessierte unter den Teilnehmer:innen.
Worum geht es genau?
Zufallsverfahren versprechen, inklusiv zu sein, weil eine solche Auswahl potenziell jede:n treffen kann. Sie geben oftmals unterrepräsentierten oder ungehörten Stimmen Raum und tragen so ein diverses Bild der Gesellschaft in politische Entscheidungsfindungsprozesse. Im ersten Treffen ging es zunächst um die Frage, auf welche aktuellen Herausforderungen geloste Beteiligung in unserer westlichen, spätkapitalistischen Gesellschaft antwortet. Als Einstimmung diente ein kurzer Input zur derzeitigen Verfasstheit unserer Gesellschaft:
Krisen wie Covid-19 oder der Klimawandel dienen als Brenngläser für bestehende soziale Ungerechtigkeiten und erhöhen den Handlungsdruck auf die Politik. Die Komplexität der Probleme sowie der politischen Prozesse erschwert es, politische Entscheidungen und Strukturen nachzuvollziehen. Während der Job “Politiker:in” immer unattraktiver wird, vertiefen Filterblasen und mediale Verzerrung die Gräben in der Gesellschaft und die Kluft zwischen Gesellschaft und Politik. Bestimmte Gruppen wie Menschen mit formal niedriger Bildung oder arme Menschen sowie Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft werden durch gängige politische Beteiligungsstrukturen wie Wahlen selten in Entscheidungsprozesse einbezogen. Am Ende der Seite unter Downloads sind alle Thesen zu finden.
Was können Losverfahren bewirken?
DIe Chancen losbasierter Beteiligung sind vielfältig. Diese haben wir unter vier verschiedenen, miteinander verbundenen Fokuspunkten diskutiert.
#Individuum
Bereits eine Einladung im Rahmen eines Zufallsverfahrens kann den Angeschriebenen Wertschätzung und Zugehörigkeit vermitteln. Die Erfahrung von wertschätzendem Austausch in den Veranstaltungen stärkt das Empfinden, gehört zu werden und so auch Zugehörigkeits- und Selbstwirksamkeitsgefühle. Das Einbringen der eigenen Meinung in Beteiligungsverfahren sowie das Hören anderer macht die Komplexität von Entscheidungen erfahrbar. Darüber hinaus kann das Verständnis für komplexe politische Entscheidungsprozesse gesteigert werden. Diese positive Demokratie-Erfahrung kann transformatorisches Potenzial entfalten und so zu mehr (politischem) Engagement und dem aktiven Mitgestalten der eigenen Lebenswelt motivieren.
#Gesellschaft
Durch Losverfahren werden verschiedene Lebenswelten miteinander in Berührung gebracht, zwischen denen sonst wenig Austausch stattfinden würde, und Verständnis für unterschiedliche Perspektiven ermöglicht. Losverfahren können – bindet man z.B. aufsuchende Elemente ein – die Sichtbarkeit verschiedener, insbesondere marginalisierter Gruppen erhöhen, obgleich Losverfahren soziale und ökonomische Ungleichheiten nicht auflösen können. Dies kann medialen und sozialen Filterblasen entgegenwirken und einen Raum für konstruktive kritische Diskussionen eröffnen. Durch das Losverfahren wird die Demokratie partizipativer. Der direkte Austausch mit den Politiker:innen wird diverser und konstruktiver und ermöglicht das Erleben demokratischer Formen der Zusammenarbeit.
#DemokratischesMiteinander
Die wertschätzende Atmosphäre und konstruktive Diskussionskultur in losbasierten Verfahren bringen Beteiligte in einen anderen Modus des Zuhörens und fördern einen respektvollen Umgang mit anderen Menschen sowie deren Meinungen (auch im Gegensatz zu z.B. Internetforen). Menschen lernen durch den Austausch mit anderen, ihre eigene Meinung zu begründen und zu hinterfragen. Widersprüche oder divergierende Meinungen werden in einen Austausch gebracht, der lehrt, dass auch wir selbst widersprüchliche Meinungen in uns tragen. Dies kann den Umgang mit Konflikten fördern. So wird der Zusammenhalt gestärkt, auch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Positionen. Losbasierte Formate können eine sehr integrative Wirkung auf Teilnehmende haben und so eine positive Politisierung erzielen. Des Weiteren kann die Atmosphäre dazu beitragen, Diskussionen zu fördern, die sich am Gemeinwohl orientieren und deren Entscheidungen meist nachhaltiger sind.
#Politik
Losbasierte Beteiligung (vor allem wenn sie bottom-up, d.h. zivilgesellschaftlich organisiert wird) ermöglicht, auch solche Themen zu adressieren, die die Parteipolitik nicht auf der Agenda hat. Die Politik erfährt diverse Perspektiven und Meinungen von Menschen über die “lauten” Stimmen hinaus und bekommt so einen ganzheitlicheren Eindruck von existierenden Sichtweisen. Politik und Gesellschaft können durch losbasierte Beteiligungsverfahren näher aneinander rücken und voneinander lernen. So wird das Vertrauen der Politik in die Menschen und der Menschen in die Politik gestärkt. Strittige Themen können innovativ und nachhaltig gelöst werden. Über Parteigrenzen hinaus können Einigungen erzielt werden.
Wieso machen das dann nicht alle?
Bei all den Argumenten, die für Losverfahren in Beteiligungsprojekten sprechen, gibt es in der Praxis wichtige Stellschrauben, die die Wirksamkeit der Verfahren erhöhen oder mindern können. Beispielsweise ist in der Erprobungsphase solcher Verfahren die politische Verbindlichkeit relativ gering. Das wiederum kann dazu führen, dass Teilnehmende solcher Verfahren enttäuscht sind, wenn das von ihnen Erarbeitete kein Gehör findet. Außerdem laufen solche Verfahren Gefahr, bestehende Machtverhältnisse zu reproduzieren und so die Stimmen, um deren Stärkung im Diskurs es geht, unterzurepräsentieren.
Wir möchten diesen kritischen Aspekten in den folgenden Sessions auf den Grund gehen und unter anderem folgende Fragen diskutieren:
- Was ist wichtiger: Repräsentativität oder Diversität? Und was ist eigentlich der Unterschied? Wie kann verhindert werden, dass sich gesellschaftliche Hierarchien auch in gelosten Diskussionsräumen reproduzieren?
- Welche Themen und Konfliktlinien können im Rahmen losbasierter Verfahren wirksam adressiert werden?
- Politische Anbindung ist wichtig, aber welche Art von Ergebnissen kann die Politik überhaupt sinnvoll verwerten?
- Wie kann das Losverfahren sinnvoll in bestehende politische Strukturen eingebettet werden?
Fazit
Losverfahren gibt es seit der Antike, sie sind ein vielversprechendes Mittel, um diverse Stimmen zusammenzubringen. Ob und wie losbasierte Beteiligungsverfahren aber ihre Wirksamkeit entfalten, hängt maßgeblich von den vielen Details ihrer Konzeption ab. Um diese werden sich die nächsten acht Sessions unserer Reihe drehen.
Der nächste Termin
Weiter geht es am Montag, 06.02.2023 von 18:00-19:30 Uhr mit dem Thema Wer wird beteiligt? Diversität vs. Repräsentativität