Session 6: Wissen

Worum ging es?

Zu Beginn wurden vier Thesen vorgestellt, um das Nachdenken über Wissen anzuregen.

1. Wissen ist Macht. Dadurch, wie wir mit Wissen umgehen und wie wir Wissen definieren, entstehen Ungleichheiten. Was als Wissen gesehen wird, ist oftmals durch diejenigen definiert, die als Wissende anerkannt werden. Es ist also abhängig von der sozialen Position des:der Wissenden und seiner:ihrer Fähigkeit, Wissen zu vermitteln. Genauso ist es abhängig von der gesellschaftlichen Bewertung von Status (wir messen zum Beispiel Berufen wie Manager:innen, Lehrer:innen oder Anwält:innen mehr Anerkennung zu als etwa Reinigungskräften, Pfleger:innen oder Erzieher:innen). Wissen wird also unterschiedlich wahrgenommen, je nachdem, wer spricht: Einem Menschen mit Professor:innen-Titel wird tendenziell vertraut; auch Auftreten, Eloquenz und Selbstvertrauen der Sprechenden spielen eine große Rolle. Aussagen eines Kindes werden dagegen anders bewertet und eingeordnet.

2. Wissen ist mehr als nur Fakten. Soziale Normen und Gewohnheiten regeln unser tägliches Miteinander. Diese beruhen meist auf einem impliziten Erfahrungswissen, das anders als naturwissenschaftlich bewiesene Fakten im alltäglichen gesellschaftlichen Miteinander gelernt wird. Es gibt also verschiedene Formen von Wissen, die in einer Situation politischer Aushandlung und Entscheidungsfindung relevant sein können. Diese unterschiedlichen Wissensbestände und Wissensformen sollten also berücksichtigt werden. Der Umgang mit der Corona-Pandemie hat dies exemplarisch gezeigt. Beim Thema Schulschließungen hätte beispielsweise neben der Gesundheitsperspektive auch die Expertise von berufstätigen Eltern, den Schüler:innen selbst und von Kinderpsycholog:innen mehr Berücksichtigung finden müssen.

3. Wissen bedarf einer gemeinsam geteilten Wirklichkeit. Dieser banale Satz hat spätestens seit der Präsidentschaft Donald Trumps in den USA (2016-2020) enorme Brisanz bekommen: Welche Fakten gelten eigentlich als Fakten und auf welche Art von Studien beruft man sich in der Diskussion politischer Sachverhalte? Sprechen wir immer nur allgemein von ‘der Wissenschaft’, wird unsichtbar, dass wissenschaftliches Arbeiten bestimmten Standards entsprechen muss und man Herkunft und die Art der Erhebung von Daten ebenfalls prüfen muss. Welche Daten liegen einer Studie zugrunde, die den menschengemachten Klimawandel leugnet? Wie wurde die Studie finanziert? Darüber hinaus verschleiert das Sprechen von ‘der Wissenschaft’, dass es auch innerhalb dieser durchaus Widersprüche und Streit gibt.

4. Wissen ist abhängig von seiner Präsentation. Moderator:innen nehmen in Bürger:innenräten eine vermeintlich neutrale Rolle ein. Doch natürlich vermitteln auch sie implizit Formen von Wissen und können damit mehr oder weniger überzeugend wirken. Wenn also ein:e Moderator:in zum Beispiel viele politische Fachbegriffe verwendet, wird eventuell der Eindruck erzeugt, dass Wissen darüber vorausgesetzt wird. Gleiches gilt für Expert:innen: Mit ihren Präsentationen setzen sie häufig den Ton für einen Bürger:innenrat – abhängig jedoch wesentlich davon, wie charismatisch oder überzeugend die Vortragenden sind. Auch unter den Teilnehmenden spielt dies eine Rolle: Wie offen bringt man sich in eine Diskussion ein, wie sehr beharrt man auf der eigenen Meinung und beruft sich dabei etwa auf (vermeintliche) Fakten? Diese unterschiedlichen Positionalitäten bei der Wissensvermittlung in Bürger:innenräten gilt es unbedingt zu beachten.

Umgang mit Wissen in Bürger:innenräten

Nach dem Input wurde in vier Gruppen der Umgang mit Wissen in Bürger:innenräten diskutiert. Dabei ging es um das Thema, die Auswahl der Expert:innen, die Rolle der Moderation und die Sensibilisierung der Teilnehmenden untereinander.

Folgende Erkenntnisse wurden vorgestellt und in großer Runde dazu diskutiert:

Gruppe 1: Setzen der Fragestellung/des Themas

Entscheidend ist die ‘Flughöhe’ des Themas – es ist notwendig, eine gute Balance zwischen einer spezifischen und dennoch verständlichen Fragestellung zu finden. Je spezifischer diese ist, desto mehr Expert:innenwissen wird nötig. Dies verringert die Zugänglichkeit. Die Fragestellung sollte ansprechend und konkret formuliert sein und eine klare Zielsetzung verfolgen.

Erfahrungsberichte vom Bürger:innenrat in Ostbelgien zeigen, dass hier vor allem die mangelnde Transparenz darüber, wie eine Fragestellung erarbeitet wird, ein Problem gewesen sei. Beim ‘Bürgerrat Corona’ in Sachsen hingegen sei mit viel zu allgemeinen Themen gearbeitet worden und die sächsische Staatsregierung habe der Formulierung des Themas nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt. Ein positives Beispiel für eine gelungene Fragestellung sei dagegen ein Bürgerrat in Schondorf: Hier ging es darum, wie man Photovoltaikanlagen möglichst umfangreich auf Hausdächern installieren könne. Hier wurde konkret das Erfahrungswissen der Einwohner:innen angesprochen und weniger das abstrakte Wissen rund um den Klimawandel an sich.

Eine generelle Herausforderung zeigt sich hier: Wer formuliert die Fragestellung und mit welchem (Vor-)Wissen? Dabei gibt es ein Spannungsfeld zwischen bottom-up und top-down-Ansätzen: Je nach Priorisierung der Beteiligung aller Menschen oder dem gewünschten Ergebnistyp muss hier abgewogen werden.

Gruppe 2: Auswahl der Expert:innen

Die Herausforderung bei der Auswahl von Expert:innen ist, festzulegen, welche Formen von Wissen benötigt werden. Sollen Fakten präsentiert werden? Geht es um Prozesswissen, spielt Alltagswissen eine Rolle? Für bestimmte Fragestellungen gibt es unter Umständen kein gesichertes Wissen. Damit erhalten die Auftraggeber:innen oder die Prozessgestalter:innen eine extrem wichtige Position, wenn sie gewährleisten müssen, allen Teilnehmenden vergleichbares Wissen für den Bürger:innenrat bereitzustellen. Daher ist Transparenz über die Auswahl und die Art der Expert:innen sehr wichtig. Eine möglichst breite Expert:innenbasis sollte ebenfalls Ziel sein. Um der starken Rolle der Prozessgestalter:innen etwas entgegenzuwirken, kann man den Teilnehmenden im Bürger:innenrat noch die Möglichkeit geben, eigene Expert:innen auszuwählen und einzuladen. Helfen kann es auch, im Bürgerrat selbst zu problematisieren, was Wissenslücken sein könnten, welche Unterschiede zwischen unterschiedlichen Wissensformen und -beständen existieren.

Eine Möglichkeit, zumindest den Einfluss von Charisma und Präsentation durch Expert:innen zu minimieren, praktizieren wir bei Es geht LOS: Anstelle von Vorträgen in Präsenz erhalten die Teilnehmer:innen ein schriftliches Begleitheft mit allen wichtigen Informationen zum Thema, das zuvor von unterschiedlichen Wissenschaftler:innen geprüft und einfach formuliert wurde.

Kontrovers diskutiert wurde, ob es möglich ist, eine Checkliste für die Auswahl der Expert:innen zu generieren. Doch auch hier stellt sich die Frage: Wer wird an der Erstellung der Checkliste beteiligt, wer legt fest, welche Kriterien sich am meisten eignen usw.?

Gruppe 3: Briefing der Moderation

Für die Moderator:innen stellen sich im Wesentlichen zwei Herausforderungen. Erstens: Welche Funktion hat die Moderation im Verhältnis zu Fakten? Sollte sie als Faktencheck agieren, bei Fehlinformationen (fake news) eingreifen? Sollte es externe Faktenchecker:innen geben? Hier wurde diskutiert, ob diese Personen dann nicht eine sehr machtvolle Position einnehmen und über welches Fachwissen die Moderation eigentlich selbst verfügen muss, um eine Diskussion gut leiten zu können. Bei Es geht LOS handhaben wir das so, dass Wissenschaftler:innen als “Telefon-Joker” zur Verfügung stehen, um gesammelt Fragen und Unsicherheiten aufzuklären. Um auch hier wieder die Charisma-Komponente zu vermeiden, vermittelt die Moderation die Antworten zurück an den Bürger:innenrat.

Die zweite Herausforderung für die Moderator:innen ist es, die Teilnehmer:innen alle gleichermaßen einzubinden. Dies gilt vor allem für diejenigen, die es nicht gewohnt sind, in politischen Diskussionen zu sprechen, sich mit kontroversen Themen auseinanderzusetzen und mit unterschiedlichen Wissensbeständen und -formen umzugehen. Hier können Gesprächsregeln helfen, die gemeinsam besprochen werden.

Gruppe 4: Sensibilisierung der Teilnehmenden

Die Teilnehmer:innen sollten dafür sensibilisiert werden, dass es unterschiedliche Formen von Wissen gibt, dass es wichtig ist, auf die Präsentation des Wissens zu achten und diese zu reflektieren, die Kriterien zu kennen, nach denen Expert:innen ausgewählt worden sind und auch die Quantität und Qualität des Wissens zu beachten. Eine Herausforderung dabei ist es, nicht durch Übersensibilisierung eine Verunsicherung der Teilnehmenden zu verursachen.

Weiterführende Gedanken

Auch die zunehmend wichtige Rolle von Programmen für künstliche Intelligenz ist von Relevanz für die weitere Diskussion rund um das Thema Wissen. Wenn es möglich ist, mithilfe künstlicher Intelligenz (fast) jede Information sofort zugänglich zu haben, ist es notwendig, vor allem Kompetenzen im Umgang mit diesen Informationen zu schulen. Wie findet man zum Beispiel heraus, ob die genutzten Quellen glaubwürdig sind?

Was nehmen wir mit?

Was Wissen eigentlich ist und wem wir Wissen zu- oder absprechen, ist eine politische Frage. Kontroverse Fragestellungen werden sich nicht einfach nur über die Präsentation von Fakten lösen lassen, weil viele weitere Wissensformen und -bestände für politische Fragestellungen relevant sind und in Bürger:innenräte auch und vor allem diese gesellschaftlichen Werte verhandelt werden.

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