Session 5: Beteiligung und Konflikt

Was ist passiert?

Die fünfte Session unserer Veranstaltungsreihe “Denkraum Demokratie – Wie weiter mit geloster Beteiligung?” drehte sich erneut um das “Was”, genauer um das Thema “Beteiligung & Konflikt”. Denn verschiedene Beispiele haben bereits gezeigt, dass in losbasierten Verfahren auch kontroverse Themen konstruktiv bearbeitet werden können. Doch was muss dabei beachtet werden und welche Verfahrensanpassungen sind ggf. nötig?

Beispiele aus der Praxis

In einem Impulsvortrag berichtete Dr. Linus Strothmann (Es geht LOS) von Erfahrungen mit dem Einsatz des Losverfahrens zur Bearbeitung kontroverser Themen während seiner Zeit als Beauftragter für Bürgerbeteiligung in Falkensee und Werder (Havel). In Falkensee ging es dabei um das Hallenbad. Hier konnte eine breite Beteiligung, unter anderem auch mit einer postalischen Umfrage unter allen Einwohner:innen, zeigen, dass die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung anders sind als im Stadtrat (Liesenberg/Strothmann 2022: 128f.).

In Werder an der Havel gab es großen Streit um das seit 140 Jahren jährlich stattfindende Baumblütenfest, das während der zehntägigen Dauer mehrere Hunderttausende Besucher:innen nach Werder bringt. Das Fest hat Tradition, ist für Werder identitätsstiftend und außerdem eine wichtige Einnahmequelle (manche Weinbauern aus Werder bestritten dadurch bis zur Hälfte ihres Jahreseinkommens). In den letzten Jahren war das Fest jedoch zunehmend zu einem Saufgelage geworden. Viele Einwohner:innen waren verärgert über den Müll und die Schäden, die z.B. in Gärten und an Häusern dadurch anfielen. Einige verließen während des Festes die Stadt. Mobilitätseingeschränkte Menschen waren von den Straßensperrungen negativ betroffen. Die Situation war aufgeheizt, es schien eine starke Polarisierung zu geben, vor allem zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen zu geben, zwischen “Ossis” und 'Wessis" zu geben. Dieses Narrativ wurde von den Medien kräftig befeuert. Die Fragestellung des Beteiligungsprozesses war demnach, wie das Fest neu gestaltet werden kann, sodass es für alle zu einem gelungenen Erlebnis wird.

Aus diesem Beteiligungsprozess stellte Linus folgende Erkenntnisse vor:

  1. Einbindung aller Menschen durch stille Formen der Beteiligung, zum Beispiel Umfragen: Diese geben auch denjenigen, die nicht klar dafür oder dagegen sind, eine Stimme. Sie zeigen dadurch, dass es nicht nur zwei Pole gibt und geben allen das Gefühl, beteiligt zu werden. Wichtig ist dabei, Möglichkeiten zur Differenzierung zu geben (z.B. nach positiven und negativen Aspekten zu fragen), dann zeigt sich: Niemand befürwortet jeden Aspekt oder findet alles nur schlecht. Ein Bürgerrat kann dann ein wichtiges Forum zur Erarbeitung von Vorschlägen sein.
  2. In losbasierten Verfahren ist es methodisch entscheidend, Begegnungen zwischen Menschen zu ermöglichen, ohne sie darauf zu stoßen, wer “zu welcher Seite gehört”. In Werder, wo eine (vermeintliche) Konfliktlinie zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen verläuft, wäre also beispielsweise die Kennenlern-Frage kontraproduktiv, wie lange man schon in der Stadt wohnt. Stattdessen zeigte sich, dass auch Personen zusammen einen Vorschlag ausarbeiten konnten, die selbst im Nachhinein sagten, dass sie gar nicht erst miteinander gesprochen hätten, wenn sie den Hintergrund des anderen gekannt hätten.
  3. Verfahren und Prozess sind nicht das Gleiche: Der Gesamtprozess, dem das Thema unterliegt, ist dynamisch und nicht steuerbar, das Beteiligungsverfahren muss sich dem immer wieder flexibel anpassen. Hier spielen zum Beispiel Medienberichte eine Rolle, welche oftmals Konflikte aufgreifen, aber wenig über einvernehmliche Einigungen berichten und die die öffentliche Meinung beeinflussen.
  4. Die explizite Anerkennung, dass es sich um einen Konflikt handelt, auch vonseiten der Politik, kann bereits entlastend wirken. Anschließend sollte immer wieder in den Vordergrund gestellt werden, dass ein geteiltes Interesse an einer Konfliktlösung besteht und es sich dabei um eine gemeinsame Aufgabe handelt.

Was bedeutet es für die Prozessgestaltung, wenn das Thema kontrovers ist?

Im Plenum wurden kontroverse Themen gesammelt und geclustert, zu denen ein Bürgerrat stattgefunden hat, gerade stattfindet, oder aus Sicht der Teilnehmenden stattfinden sollte. Es bildeten sich drei Gruppen, die über Übertragungsmöglichkeiten der Erkenntnisse in Bezug auf das jeweilige Thema anhand folgender Fragen diskutieren:

  1. Teilnehmende: Wie kann sichergestellt werden, dass sich niemand ausgeschlossen fühlt?

  2. Wie kann Polarisierung im Prozess und Angreifbarkeit in Bezug auf Prozessneutralität verhindert werden (bezüglich Aufbau/Methoden, Moderation, Expert:innenauswahl und Wissenstransfer)?

  3. Was ist in Bezug auf den Gesamtprozess und die politische Anbindung zu beachten?

Die Gruppe zum Thema “Waffenlieferungen an die Ukraine” sah die Notwendigkeit, neben zufällig ausgelosten Einwohner:innen auch Geflüchtete aus der Ukraine, die Friedensbewegung, Waffenlieferungsgegner:innen sowie ggf. Menschen aus Nachbarstaaten Russlands einzubinden. Über die Einbindung der russischen Perspektive wurde diskutiert. In Bezug auf die Prozessgestaltung wurde eine hohe Manipulationsgefahr gesehen, dem sollten Transparenz in Bezug auf die Expert:innen-Auswahl und unabhängige Beobachter:innen entgegenwirken. Bei diesem Thema sei eine Rückkopplung an den Rest der Bevölkerung besonders wichtig, diese könnte über eine Diskussion der Ergebnisse in den Kommunen sichergestellt werden. Außerdem sollte der Bundestag Stellung zu den Ergebnissen nehmen und diese im Ausschuss/Plenum diskutiert werden. Wenn Empfehlungen nicht übernommen würden, sollte eine öffentliche Begründung erfolgen.

In der Kleingruppe zum Thema “Autofreie Innenstadt/Tempo 30 in allen Städten/Orten” wurde diskutiert, wie Pendler:innen, Anwohner:innen, Verkehrsteilnehmer:innen (per Auto, Fahrrad, Fuß), Gewerbetreibende, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie die Feuerwehr/Polizei eingebunden werden könnten. Vorschläge waren z.B., Werbetafeln an Ortseingängen für stille Beteiligungsformen zu postieren oder über Arbeitgeber:innen von Pendler:innen zu gehen. Die relevanten Bezugsgruppen zu finden wurde jedoch als Schwierigkeit angesehen, daher sei eine konkrete Fragestellung sowie Transparenz notwendig. Methodisch sollen Gemeinsamkeiten hervorgehoben sowie nicht-sachliche Informationen und Empathieaufbau fokussiert werden. Möglich sei auch der Einsatz von Rollenspielen, wie sie beispielsweise bei der Erstellung eines Masterplans Mobilität in Frankfurt am Main zum Einsatz kamen. Auch interaktive Visualisierung könnte unterstützend wirken.

Die Gruppe zum Thema “Einwanderungsgesetz” empfand die Frage der Beteiligung als schwierig, da vor allem auch Betroffene und damit eine potenziell globale Zielgruppe einbezogen werden müssten. Daher sei es entscheidend, die Fragestellung und den Handlungsspielraum deutlich zu machen, beispielsweise in Bezug auf die Frage, wie auf kommunaler Ebene Ressourcen eingesetzt werden und wo noch Unterstützung angefragt werden müsse. So könnten ggf. verschiedene politische Ebenen adressiert werden. Ein Bürgerrat zu diesem Thema könnte zudem eine wichtige Rolle darin spielen, über die Hintergründe des Themas und die globalen Zusammenhänge (Fluchtursachen, Globalisierung und Kapitalismus, rechtliche Aspekte) zu informieren und eine politische Diskussion dieses Komplexes anzuregen.

Weiterführende Gedanken

Im Gegensatz zu kommunalen Themen wie im einführenden Vortrag ist die Frage danach, wer beteiligt werden muss, bei gesamtgesellschaftlichen Themen bzw. Betroffenheiten, die ggf. sogar über die nationale Ebene hinausgehen, schwieriger zu beantworten. Die Herausforderung der Repräsentation bleibt in diesem Fall bestehen.

Was nehmen wir mit?

Kontroverse Themen können auch mithilfe von losbasierten Verfahren gut bearbeitet werden, die jedoch um Formen der Beteiligung, die für alle offen sind, ergänzt werden müssen. Im Prozess braucht es in klares Verständnis davon, dass die Konfliktlösung gemeinsame Aufgabe ist, Flexibilität in der Gestaltung sowie Methoden, die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und Empathie fördern.

Quellen:

Liesenberg, Katharina; Strothmann, Linus (2022): Wir holen euch ab! Wie wir durch Bürgerräte und Zufallsauswahl echte Vielfalt in die Demokratie bringen. München: oekom.

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