Was wäre, wenn in der Politik alle etwas zu sagen hätten? Wenn auch diejenigen mitreden, die sich nicht immer sowieso schon einbringen? In Brandis und Tengen ist genau das passiert. Die beiden Kleinstädte in Sachsen und Baden-Württemberg haben im März geloste Bürger*innenräte durchgeführt, um die Bürger*innen in die Überarbeitung ihrer kommunalen Leitbilder einzubeziehen. Vor dem Hintergrund der Pandemie, der fortschreitenden Digitalisierung und der Dringlichkeit der Klimakrise wollen sie die alten Leitbilder aktualisieren. Dafür sind zufällig aus dem Melderegister geloste Bürger*innen einen Tag lang zusammengekommen und haben verschiedene Themenfelder diskutiert.

Unterschiedliche Formen der Bürger*innenbeteiligung werden in der Politik schon lange angewandt, doch die beiden Kommunen haben etwas Neues ausprobiert: Das sogenannte Aufsuchende Losverfahren. Dieser Ansatz wurde vom Think & Do Tank Es geht LOS entwickelt, der das Projekt gemeinsam mit der Stadtverwaltung durchgeführt hat. Das Besondere an dem Format: Die ausgelosten Bürger*innen werden nicht nur per Post zum Rat eingeladen. Diejenigen, die sich auf ein erstes und zweites Anschreiben nicht zurückmelden, werden zu Hause besucht, um im persönlichen Gespräch auf die Gründe einzugehen, die sie an einer Teilnahme hindern. Auf diese Weise können Skepsis und Unsicherheit abgebaut werden und manche werden doch überzeugt teilzunehmen. Die Idee dahinter: Nur wenn auch diejenigen kommen, die normalerweise nicht gehört werden, entsteht echte Vielfalt.

Die Bürger*innenräte sind Teil eines breit angelegten Beteiligungsverfahrens, das es ermöglichen soll, möglichst viele Perspektiven der Bürger*innen von Brandis und Tengen einzubeziehen. So haben beide Städte neben dem Bürger*innenrat sowohl eine Online-Beteiligung als auch einen Bürgerdialog eingesetzt. Diese klassischen Formen der Beteiligung gaben den Bürger*innen Raum, sich auch dann in die Aktualisierung des Leitbildes ihrer Stadt einzubringen, wenn sie nicht gelost wurden. Den neuartigen Kern des Projektes stellt jedoch der Bürger*innenrat dar, weshalb das Projekt den Namen trägt: “Gemeinsam Zukunft Aufsuchen - Brandis und Tengen gehen LOS”.

Die Bürger*innenmeister von Tengen und Brandis koordinieren das Projekt und helfen beim Aufsuchen. Viel Arbeit seien die Hausbesuche, doch sie haben sich gelohnt, findet Arno Jesse, der Bürger*innenmeister von Brandis. Beim Rat hätten die Teilnehmenden unter anderem ein viel besseres Verständnis für die Stadtpolitik gewonnen, für Zuständigkeiten und Entscheidungswege. Für Marian Schreier, den Bürger*innenmeister von Tengen, ist ein offener, beteiligungsorientierter Politikstil heutzutage das einzig Sinnvolle: „Ohne Beteiligung übersieht man wichtige Perspektiven und es ist schwieriger, Legitimation für politisches Handeln zu stiften.” Der Rat sollte dementsprechend möglichst divers zusammengesetzt sein. Das soll durch das zufällige Losverfahren sichergestellt werden, das nur eine ungefähre Gleichverteilung nach Alter, Geschlecht und den verschiedenen Stadtteilen vorgibt.

Das Gesamtprojekt ist Teil der vom Bundesinnenministerium des Innern und für Heimat geförderten Regionalen Open Government Labore. Die Finanzierung durch den Bund hat die Zusammenarbeit mit Es geht LOS erst ermöglicht, denn wie in vielen Kommunen sind die Ressourcen zur Durchführung innovativer Beteiligungsverfahren knapp. Das Ziel des Vereins ist jedoch auch, Kommunen einen Materialbaukasten an die Hand zu geben, mit dem sie ohne viel Aufwand Beteiligungsverfahren organisieren können. Zusätzlich hat er unter anderem eine App entwickelt, mit der sich das Aufsuchende Losverfahren unkompliziert durchführen lässt. Mit dem Modellprojekt will Es geht LOS zeigen, dass Beteiligung nicht unglaublich ressourcenintensiv sein muss.

Bürger*innenräte werden auch auf Bundesebene und in anderen europäischen Ländern, wie Frankreich und Großbritannien, immer häufiger eingesetzt. Wenn sie effektiv organisiert sind, können sie Vertrauen stärken und zu besseren politischen Entscheidungen führen, so der Sozialpsychologe Julian Bleh. Er begleitet das Projekt wissenschaftlich und sieht darin eine Möglichkeit, wie politische Partizipation über bestehende Filterblasen hinausgehen kann.

Bei den beiden Bürger*innenräten in Tengen und Brandis hat das funktioniert. Menschen im Alter von 14 bis 84 Jahren haben teilgenommen, sowohl Alteingesessene als auch neu Zugezogene. Viele von ihnen sind überzeugt von dem Format und positiv überrascht von der konstruktiven Diskussionsatmosphäre. „Niemand hat einen Standpunkt stur vertreten“, erzählt Birgit Stihl, eine der Teilnehmenden in Tengen. „Die Welt kann man nicht umdrehen an dem einen Tag, aber auch ich habe ein paar Vorschläge eingebracht“, sagt sie. Wie viele andere geht sie beflügelt vom Austausch mit den anderen aus dem Bürger*innenrat heraus.

Anfang Mai haben Vertreter*innen von Es geht LOS schließlich die Ergebnisse aus dem Beteiligungsverfahren an die Stadträte übergeben. Auf ihrer Grundlage werden nun die Leitbilder beider Städte überarbeitet. Dank der gemeinsamen Mühe werden sie hoffentlich nicht nur ein roter Faden für die Stadt, sondern auch ein Leitbild für ihre Bürger*innen sein.

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