Einen Tag Politik machen
Zwei Teilnehmer*innen der Bürger*innenräte schildern ihre Erfahrungen. Über einen umstrittenen Kunstrasenplatz und ein Rezept gegen die AfD.
„Ich denke immer, wenn man von der Politik spricht, geht es um den Bundestag“, sagt Birgit Stihl. „Damit habe ich nicht so viel am Hut. Aber die Politik in Tengen interessiert mich sehr.“
Stihl ist eine der 34 Teilnehmenden des Bürger*innenrates, den die baden-württembergische Kleinstadt Tengen im Zuge der Aktualisierung ihres Stadtleitbildes veranstaltet. Unter den knapp fünftausend Bürger*innen wurde sie ausgelost, um einen Samstag lang stadtpolitische Themen zu diskutieren. Der Bürger*innenrat ist Teil eines größeren Versuches. Neben Tengen wendet auch die Stadt Brandis in Sachsen ein losbasiertes Beteiligungsverfahren an, um möglichst viele Perspektiven in die Überarbeitung ihres Leitbildes einzubinden. Der Think & Do Tank Es geht LOS, der das Verfahren entwickelt hat, begleitet das Projekt.
Der Bürger*innenrat findet am ersten sonnigen Samstag des Jahres in einer Turnhalle statt. Stühle stehen in einem großen Kreis, damit alle sich sehen können. Der Bürger*innenmeister Marian Schreier stellt das aktuelle Leitbild „Stadt Tengen 2030“ vor, das die Gemeinde 2016 erarbeitet hat. Von den Teilnehmenden kennt Stihl die meisten, weil sie früher bei Edeka an der Bäckereitheke gearbeitet hat. Das Alter in der Runde reicht von 14 bis 74 Jahren und es sind in etwa ebenso viele Männer wie Frauen dabei. Für die Auslosung wurde die Tengener Bevölkerung nach Geschlecht, Alter und den verschiedenen Stadtteilen in mehrere Gruppen geteilt, aus denen dann jeweils zufällig ausgewählt wurde. Für Stihl ist das eine große Stärke des Bürger*innenrats, denn auf diese Weise trifft sie hier auch junge Menschen. Sie freut sich besonders, die fünf Teilnehmenden kennenzulernen, die erst während der Pandemie nach Tengen gezogen sind.
Als Nächstes werden die Stühle zu Kleingruppen zusammengestellt. Mit sechs anderen Menschen wird Stihl in die Gruppe „Umwelt- und Tourismus“ gelost. Das Gesprächsklima empfindet sie als sehr angenehm: „Jeder konnte sich äußern und es gab sehr interessante Gespräche.“ Als später alle gemeinsam über neue Maßnahmen für das Leitbild reden, bringt sie auch selbst Vorschläge ein.
Birgit Stihl ist eine mustergültige engagierte Bürgerin. Sie ist im Vorstand des Tengener Narrenvereins und dort für die Kleiderordnung zuständig. Während der Schulzeit ihrer vier Söhne war sie Elternbeirätin und hat regelmäßig die offenen Sitzungen des Gemeinderates besucht. Sie liest jeden Tag online Nachrichten und informiert sich im Radio oder übers Fernsehen. Für die Weltpolitik interessiere sie sich weniger, sagt sie, für die Tengener Stadtpolitik dafür umso intensiver. Schließlich wohnt sie schon 56 Jahre in der Stadt und hat sie aktiv mitgestaltet.
Als Stihl in ihrem Briefkasten die Einladung zum Bürger*innenrat fand, war sie trotzdem nicht sicher, ob sie teilnehmen sollte: „Ich habe es mir sehr kompliziert vorgestellt“, sagt sie. Doch dann spricht sie beim Abendessen mit ihrer Familie darüber und man ist einig, dass die Teilnahme ein Ehrenamt ist, im positiven Sinne. Stihl fühlt sich also geehrt und sagt zu.
Corona ist natürlich präsent bei dem Rat. Alle tragen Masken und müssen besonders laut sprechen, um sich zu verstehen. Auch das Stadtleben hat in den letzten zwei Jahren unter der Pandemie gelitten. Der Schätzele-Markt, das alljährliche viertägige Volksfest im Oktober, konnte nicht stattfinden, erzählt Stihl. “Einfach mal so Leute treffen, das ging in dieser Zeit fast gar nicht.” Deswegen sei es schön, jetzt in Präsenz zusammenzukommen, denn das Virus wirkt sich auch auf die Stadtpolitik aus.
In den Kleingruppen kommt jede*r Einzelne dann zu Wort. Während des Tages gibt es keine wirklich kontroversen Themen. Dem Bau eines geplanten Fußballplatzes mit Kunstrasen stehen einige Bürger*innen zuerst ablehnend gegenüber und es gibt Fragen. „Das war ein superspannendes und lustiges Thema“, lacht Stihl, „wir haben uns gefragt: Brauchen wir den? Tut’s kein normaler Rasen?“ Der Bürger*innenmeister antwortet auf die Bedenken und legt dar, wie hoch die Kosten eines echten Rasens samt dauerhafter Pflege wären. Am Ende ist Stihl überzeugt: „Wenn man die Sache einmal richtig erklärt bekommt und sich wirklich interessiert, hört es sich doch ganz vernünftig an.“ Dafür, dass einige Probleme nicht zu lösen sind, hat sie Verständnis. Sie sieht es pragmatisch, etwa bei der Verkehrsplanung: „Der Schwerlastverkehr kann nun mal nicht über die Autobahn gehen, weil wir keine haben, der wird immer über den Kreisverkehr laufen.“
Im Gespräch erzählt Stihl von einem Bürger*innenentscheid, der 2020 die Stadt in Aufregung versetzt hat. Es ging um die Errichtung eines Windparks – ein Thema, das überall in Deutschland für Streit sorgt. Sie selbst war entschieden dafür. Die Debatte lässt sie immer noch sehr emotional werden, sagt sie: „Viele haben einfach dagegen gestimmt, ohne darüber nachzudenken, welche Alternativen es gibt. Wenn man nur dagegen ist, ist es einfach, viele Leute zu überzeugen.“ Im Vergleich zu der polarisierten Stimmung damals sei der Bürger*innenrat sehr konstruktiv gewesen. „Niemand hat einen Standpunkt stur vertreten.“
Einen ähnlichen Eindruck hatte Oliver Kiss vom Bürger*innenrat in Brandis, der eine Woche später stattfindet. Dass er als Gemeinderat des Ortsteils Beucha als Teilnehmer ausgelost wurde, ließ ihn zuerst an der Willkür des Losverfahrens zweifeln. Doch als die Moderation das genaue Prozedere erklärt hat, war er begeistert. Der Auswahlprozess sorge auch für ein gutes Gesprächsklima im Rat selbst, meint er: „Alle haben ihre Meinung als gleich wichtig empfunden, weil wir ja alle auf die gleiche Weise ausgelost wurden.“ Die Diskussionen waren in seinen Augen extrem konstruktiv. „Natürlich sind manche es von Berufs wegen eher gewohnt, frei zu reden und sich in Teams durchzusetzen.“ Weil jede Kleingruppe ihre eigene Moderation hatte und die Gruppen ständig gewechselt wurden, konnten sich solche Hierarchien aber nicht festsetzen.
Am Anfang des Tages waren viele noch etwas reserviert, schildert Kiss, wie eben die Einstellung vieler Bürger*innen zur Politik ist. Nach und nach habe sich das aber aufgeweicht, weil die Teilnehmenden gesehen haben, wie viel Know-how und Arbeit in so einem Leitbild steckt. In der abschließenden Feedback-Runde gab es niemanden, der sich dem Konzept des Bürger*innenrates komplett verweigert hat. Im Gegenteil: Der Tag hat vielen Lust auf mehr gemacht, weil sie das Gefühl bekommen haben, sie können etwas bewegen. Kiss kann sich vorstellen, dass die eine oder andere Person sich nach dem Rat sogar ehrenamtlich in der Stadtpolitik engagiert.
Was für Birgit Stihl und Oliver Kiss gleichermaßen vom Bürger*innenrat zurückbleibt, ist ein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Beide sind von dem Format überzeugt und gehen mit einem guten Gefühl aus der Begegnung mit ihren Mitbürger*innen heraus. Stihl wäre sogar bereit, öfter daran teilzunehmen. Sie überlegt: „Vielleicht nicht einmal im Monat, aber einmal im Jahr auf jeden Fall.“
Für Kiss hat das Projekt noch eine andere Dimension. „Wir müssen etwas für die Demokratie hier tun, sonst wird die nächste Bürgermeisterwahl von der AfD gewonnen“, befürchtet er. Dass beim letzten Mal der SPD-gestützte Arno Jesse gewählt wurde, lag vor allem an seinen Bemühungen um Bürger*innennähe. „Dieser Rat ist nur ein kleiner Teil der Partizipation, die wir brauchen“, sagt Kiss. Er hilft dabei, Vertrauen in politische Prozesse aufzubauen, jenseits von „Die sind doch alle doof.“
Yann Schmidt