Vorarlberg als Erfolgsmodell bürgerlicher Beteiligung

„Bürger*räte ermöglichen Bürger*n, sich bei politischen Fragen einzubringen, ihren Standpunkt zu äußern und andere Meinungen zu einer Frage- oder Problemstellung kennenzulernen.“

Das Model „Bürger*beteiligung“ ist in Vorarlberg längst keine Neuerfindung mehr. Seit dem Start 2006 hat das Büro für Zukunftsfragen über 60 Bürger*räte in Vorarlberg organisiert oder begleitet. Dabei werden nicht nur die Bürger* mehr in die Politik einbezogen, sondern auch Politiker* erhalten mehr ziviles Verständnis und diverse Perspektiven. „Wenn wir von Bürger*räten sprechen, meinen wir gleichzeitig auch einen Prozess politischer Bildung und der Möglichkeit, dass sich Entscheidungsträger* qualifizierte Meinung aus der Bevölkerung abholen können.“, erklärt Michael Leder, Leiter des Büros für Zukunftsfragen im Amt der Landesregierung Vorarlberg.

Vorarlberg gilt als Vorreiter der Bürger*beteiligung

2006 wurde die Gemeinde Wolfurt in Vorarlberg Schauplatz eines großen Ereignisses, nämlich des ersten Bürger*rats europaweit. Diskutiert wurde die „Erhaltung der guten Lebensqualität und des hohen Lebensstandards“ Wolfurts. Das Resultat: Die Bürger* wünschten sich hochwertige Lebensräume mit dörflicher Struktur. Dies hätte etwaigen urbanen Bauprojekten widersprochen und war somit ein nützlicher Hinweis für lokalpolitische Entscheidungsträger*. Nach weiteren Initiativen der Bürger*beteiligung wurde ab März 2011 auf Landesebene halbjährlich ein Bürger*rat abgehalten. Der Erfolg blieb nicht unbemerkt und überzeugte letztendlich den Vorarlberger Landtag zu einer Verfassungsänderung im Januar 2013. Demnach wurde die „partizipative Demokratie“ in der Vorarlberger Landesverfassung verankert, was die Bürger* Vorarlbergs erstmals zu einem offiziellem Mitbestimmungs-Bekenntnis in politischen Entscheidungen verhalf. In sonst keinem europäischen Land war bisher irgendeine Form der partizipativen Bürger*beteiligung in der Verfassung festgehalten worden. Vorarlberg rollte somit den ersten Stein in Richtung bürgerlicher Beteiligungskultur in Europa.

Warum Bürger*räte für Vorarlberg so wichtig sind

Durch die Verfassungsänderung wurde eine rechtliche Grundlage geschaffen, um die repräsentative Demokratie durch partizipative Elemente zu ergänzen. Somit entstanden zusätzliche Möglichkeiten der politischen Mitwirkung und Mitgestaltung, um so die Kluft zwischen den staatlichen Entscheidungsträger*n und Bürger*n zu verringern und zunehmender Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Für Michael Lederer steht ein Bürger*rat für viele wichtige Funktionen der Kommunalpolitik ein. „Bürger*räte wirken auf vielen unterschiedlichen Ebenen. Bei den Teilnehmenden selbst, in dem sie ihre Standpunkte verändern und sich mit neuen Sichtweisen beschäftigen, was ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und des aktiven, eigenen Handelns erzeugt. Der Teilnehmer* kann als Teil einer Gruppe an politischen Themen arbeiten, die dann auch weiterführend umgesetzt werden. Auf der anderen Seite hilft der Bürger*rat auch dabei, politische Entscheidungen zu legitimieren und nicht über den Köpfen der Bevölkerung hinweg zu entscheiden. Die Rahmenbedingungen des Prozesses gewährleisten zudem, dass sich sowohl Politik wie auch Verwaltung mit den Ergebnissen beschäftigt und damit eine kollektive Willensbildung möglich ist. Ein Lernprozess für alle Beteiligten auf dem Weg hin zu einer Politikgestaltung auf Augenhöhe.“

Vorarlberg als Aushängeschild österreichischer Partizipationspolitik ist kein Zufall. Bürger*beteiligung hat im zweitkleinsten Bundesland der Alpenrepublik traditionell einen hohen Stellenwert. Auch freiwilliges Engagement wird seit jeher als Motor für positive, gesellschaftliche Weiterentwicklung gesehen und dementsprechend unterstützt und gefördert.

Bürger* von heute schaffen die Zukunft von morgen

Der lösungs- und praxisnahe Bezug der Vorarlberger Bürger*räte machte das Modell zur Denkschule der aktiven Beteiligung und zur Orientierungshilfe für weitere Annäherungen anderer europäischer Länder.

Die zufällig (per Losverfahren) ausgewählten Teilnehmenden des Bürger*rats, meistens zwölf bis fünfzehn Personen, werden dazu eingeladen, bestimmte gesellschaftspolitische Themen zu diskutieren, Herausforderungen in diesem Zusammenhang aufzuzeigen und Lösungen zu erarbeiten. Inhaltlich wird der Bürger*rat weder angeleitet, noch beeinflusst. Lediglich die Fragestellung wird vorgegeben. Moderiert wird er mithilfe der lösungsorientierten Methode "Dynamic Facilitation".

Die Moderationsmethode „Dynamic Facilitation“ ist bei Vorarlberger Bürger*räten bewährt. Warum ist sie besonders geeignet? „Bei Dynamic Facilitation kommt es nicht zu einem Schwarz-Weiß-Denken, das eine unmittelbare Entscheidung fordert. Das sogenannte „Choice-Creating“, was während der Diskussion stattfindet, animiert Teilnehmer* dazu, zuerst eine Auswahl gemeinsam festzulegen, bevor man sich letztendlich auf einen Konsent, nicht Kompromiss einigt. Dieser Konsent entsteht aus dem zirkulären Denken der Gruppe und dem Denken in Möglichkeiten. So erzielt man am Ende ein viel aussagekräftigeres Ergebnis als bei einer normalen Gruppendiskussion“, erklärt Markus Götsch von der Kommunikationsagentur Narrativum e.U.

Am Ende eines Bürger*rats wird das Diskussionsergebnis von allen Teilnehmenden als Statement zusammengefasst. Dies wird in einem zeitnahen "Bürgercafé" der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. Das „Bürgercafé“ hat in Vorarlberg Tradition. Mit dem Ziel, die Bevölkerung in die Zukunftsarbeit einzubinden, wird nach jedem Bürger*rat ein öffentlich zugängliches Event organisiert, wo sich Bürger* einfinden können um über die Ergebnisse des aktuellen Bürger*rats zu diskutieren. Man kann also sagen, dass es sich hier um einen partizipativen Stammtisch handelt.

Nachdem die Entscheidungsfindung seitens der Bürger* abgeschlossen ist, werden die Vorschläge des Bürger*rats in einer Sitzung der "Resonanzgruppe" (Strategiegruppe, bestehend aus politischen Vertretern*, Verwaltung, NGOs, Vertreter*n des Bürger*rats), auf die konkrete Umsetzung geprüft und als konkrete Handlungsempfehlung weitergereicht. Dies dient nun als Grundlage für zukünftige, politische Initiativen, aktiv mitgestaltet von den Bürgern* Vorarlbergs.

Zukünftige Fragestellungen erfordern zukünftiges Handeln

Der Vorarlberger Landesregierung ist es bei Bürger*räten wichtig, dass ein konkreter Bezug zu lokalpolitischen Themen oder Diskussionen besteht. Es wird also nicht mit der Frage „was wäre wenn" gearbeitet, sondern mit „wie können WIR“„. Man ist dabei bemüht, die Meinung der Bürger* möglichst in den Vordergrund zu rücken, aber auch gleichzeitig konkrete politische Empfehlungen auszuarbeiten.

Themen von erfolgreichen Bürger*räten in der Vergangenheit:

  • Zukunft Landwirtschaft (2019)
  • Mobilitätskonzept (2018)
  • Umgang mit Grund und Boden (2017)
  • Jugend - Zukunft - Chancen (2016)
  • Ohnmacht der Bürger* (2011)

Ein Thema der aktuelleren Bürger*räte aus dem Jahr 2018 ist das „Mobilitätskonzept Vorarlberg“. Im Zentrum der Debatte stand die Balance zwischen Umwelt und Wirtschaft im Sinne einer langfristig hohen Lebensqualität. Es sollte eine Lösung zwischen zukunftsfähiger Mobilitäts- und Verkehrsentwicklung geschaffen werden. Der Bürger*rat sprach sich für klimafreundliche öffentliche Verkehrsmittel aus, sowie alternative Transportmöglichkeiten mittels voranschreitender Technologie. Seither ist der Verkehr das größte Klimaschutzproblem Vorarlbergs. „Gerade bei der Mobilität gibt es in Sachen Klimafreundlichkeit noch viel Luft nach oben“, wird Landesrat Johannes Rauch im Online-Magazin LOCK Report zitiert. Im Oktober 2019 fand der Bürger*rat „Zukunft Landwirtschaft“ statt. Hier wurden Lösungsansätze für eine verantwortungsvolle und nachhaltige Landwirtschaft mit den Bürgern* erarbeitet. Die Ergebnisse aus allen Prozessschritten wurden genau dokumentiert und zu folgenden zehn Erkenntnissen zusammengefasst:

1. Regionalität stärken

2. Berufsbild aufwerten und transparenter kommunizieren

3. Finanzielle Herausforderungen

4. Landwirtschaftliche Flächen erhalten

5. Verstärkte Bewusstseinsbildung und Öffentlichkeitsarbeit

6. Beziehungen ermöglichen

7. Transparenz forcieren

8. Kooperation fördern

9. Tourismus und Landwirtschaft zusammendenken

10. Offenheit für gesellschaftliche Veränderungen

Mehr Details zu dem Bürgerrat "Zukunft Landschwirtschaft" könnt ihr hier nachlesen.

Bürger*räte sind das europäische Zukunftskonzept

Seit Vorarlberg partizipative Demokratie par excellence betreibt, haben sich auch andere europäische Länder zum aktiven Handeln entschlossen. Lest in unserem Beitrag „Belgien – Lasst uns die Demokratie retten“, wie die Deutschsprachige Gemeinde Belgiens ihren ersten Bürger*rat ins Leben ruft oder wie ein mutiger irischer Minister eine Verfassungsänderung mithilfe von 2 spektakulären Bürger*räten erwirkt.

Seite teilenLink in Zwischenablage kopiert